Was offline gilt, muss online gelten
1. Herausforderungen der Informationsgesellschaft
2. Zentrales Internet-Recht Meinungsäußerungsfreiheit
3. Operationalisierung statt Neudefinition
1. Herausforderungen der Informationsgesellschaft
Das Internet hat unsere Lebensrealitäten substanziell verändert. Es ist in den Worten von US-Außenministerin Hillary Clinton zum „öffentlichen Raum des 21. Jahrhunderts“ geworden, zum „Hauptplatz der Welt, dem Klassenzimmer, dem Marktplatz, Kaffeehaus und Nachtclub“. Aber es ist mehr als nur das: Das Internet ist auch zur Telefonzentrale geworden und zur Zeitungsdruckerei; zum Ort, wo sich MenschenrechtsaktivistInnen zusammenfinden, um Demonstrationen zu planen, Plakate zu gestalten, Boykottaufrufe zu formulieren und Revolutionen zu starten. Für eine ganze Generation ist das Internet heute jener Ort, wo über geografische Beschränkungen hinweg Meinungen gebildet, aggregiert und artikuliert werden. Damit ermöglicht das Internet den Userinnen und Usern viel intensiver als bisher, ihre Informations- und Kommunikationsfreiheiten auszuüben. Dies wiederum befördert die Realisierung anderer Menschenrechte und legt eine Frage nahe:
Benötigen wir im Lichte der neuen technologischen Herausforderungen auch neue Menschenrechte? Menschenrechte, die offline gelten, gelten auch online. Das hat zuletzt der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in einer am 5. Juli 2012 im Konsens angenommenen Resolution bestätigt. Doch vor welchen besonderen Herausforderungen stehen die Menschenrechte in der Informationsgesellschaft?
Natürlich stellt das Internet den Menschenrechtsschutz vor große Herausforderungen. Nur sind diese nicht konzeptioneller Natur; vielmehr ist es schwierig, die volle Anwendbarkeit der Menschenrechte auf Sachverhalte mit Internetbezug sicherzustellen. Die Herausforderung hierbei ist zweidimensional: Einerseits eröffnen Informations- und Kommunikationstechologien neue Gefährdungshorizonte (etwa durch die Kombination von sinkenden Speicherkosten und steigenden Datamining-Kapabilitäten), andererseits vertikalisiert die Vielfalt der AkteurInnen im Internet die Bedrohungsquellen für Menschenrechtsverletzungen und erweitert den Kreis der PflichtenträgerInnen auf nichtstaatliche AkteurInnen. Effektiver Menschenrechtsschutz ist äußerst komplex im normativen Mehrebenensystem internationaler Menschenrechtsverbürgungen, regionaler Schutzmechanismen, nationaler Grundrechte (und nationaler KonsumentInnenrechte) – sowie im Dickicht verschiedener AkteurInnen: InternetdiensteanbieterInnen, InternetzugangsanbieterInnen, Strafverfolgungsbehörden aber auch selbst- und fremdgefährdende UserInnen.
2. Zentrales Internet-Recht Meinungsäußerungsfreiheit
Zentrale Feststellung jeder Untersuchung der Rolle von Menschenrechten in der Online-Welt muss bleiben, dass Menschenrechte technologieneutral sind, wie schon in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu lesen ist.
Ausgehen muss jede Analyse des Schutzes von Informations- und Kommunikationsprozessen von Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948. Dieser garantiert „[j]ede[m] […] das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“
Der Begriff „Medien jeder Art“ schließt jedenfalls das Internet mit ein; auch der Verweis auf eine Kommunikation „ohne Rücksicht auf Grenzen“ ist für das grenzenlose Internet von Bedeutung.
Ein Beispiel ist die Freiheit der Meinungsäußerung: Zwar hat sich der Schutz der Informations- und Kommunikationsprozesse im Laufe der Zeit menschenrechtlich ausdifferenziert, doch bleibt die Meinungsäußerungsfreiheit ein zentrales Menschenrecht unter den Informations- und Kommunikationsfreiheiten. Sie ist ein Katalysator für andere Menschenrechte, ein „enabler“. Die KommunikatorIn (UserIn), der Kommunikationsinhalt und die RezipientIn werden durch die Meinungsäußerungsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Informationsfreiheit, die Gedankenfreiheit, das Recht auf Achtung der Privatsphäre und der Korrespondenz geschützt.
Auch die Versammlungsfreiheit als institutionalisierte Form der Meinungsäußerungsfreiheit ist geschützt – offline wie online. Dasselbe gilt, um nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen, für das Recht auf Teilhabe am öffentlichen Leben, das durch Zensur und Internetabschaltungen berührt ist. Einschränkungen sind möglich, nur müssen diese dem Dreistufentest von Gesetzmäßigkeit (und Vorhersehbarkeit), Legitimität (des Beschränkungsziels) und Verhältnismäßigkeit entsprechen.
3. Operationalisierung statt Neudefinition
Noch vor der Resolution des Menschenrechtsrates haben NGOs und internationale Organisationen versucht, Listen von Rechten und Prinzipien für das Internet zu entwerfen. Diese haben durchaus ihre Berechtigung, doch soll nicht die Suche nach neuen Menschenrechten für das Internet im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr die Operationalisierung der bestehenden Menschenrechte. Wir brauchen keine neuen Formulierungen, sondern müssen bestehende Menschenrechte für das Internet übersetzen. Die Leitlinie ist dabei klar: Was offline gilt, muss online gelten.
Eine detaillierte Behandlung dieser Fragestellungen findet sich in Matthias C. Kettemann, Menschenrechte 2.0: UN-Menschenrechtsrat bestätigt Geltung der Menschenrechte im Internet, jusIT 3 (2012), 161–164.
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