3.2. Netzneutralität (Tassilo Pellegrini)

Das Internet im Spannungsfeld von Public Service und Kommerzialisierung

1. Meinungsfreiheit und kommerzieller Datentransport
2. Definitionsansätze für Netzneutralität
3. Argumente für und wider die Netzneutralität
4. Netzneutralität in der Europäischen Union
5. Schlussbetrachtung
Weiterführende Literatur

 

1. Meinungsfreiheit und kommerzieller Datentransport

Die demokratisierende Funktion des Internets bestand bisher in den offenen Standards, den geringen Kosten und dem gleichberechtigten Zugang zur Netzinfrastruktur mit ihren unzähligen Services und Anwendungen. Grundlage dafür bildete die sogenannte Netzneutralität, eine historisch gewachsene technische Konvention, die alle Datenpakete im Netz gleichberechtigt behandelt. Die Netzneutralität diente ursprünglich der verrechnungstechnischen Komplexitätsreduktion unter Telekommunikationsanbietern und stellte sicher, dass Netzwerke auf globalem Niveau interoperabel sind. Mit der Nachrüstung der Telekommunikationsinfrastrukturen um leistungsfähigere Routing- und Monitoringtechnologien sind Telekommunikationsbetreiber seit wenigen Jahren in der Lage komplexere Transport- und Verrechnungsdienste anzubieten. Dies kommt vor allem in der aktuellen Debatte um Quality of Service (QoS) bzw. Managed Services zum Ausdruck und hat weitreichende Folgen für die Funktionsweise und den gleichberechtigten Zugang zur Netzinfrastruktur.

Die Netzneutralität ist sowohl Bedingung als auch Ursache für inhaltliche Vielfalt, niedrige Markteintrittsbarrieren und relativ geringe Partizipationskosten – sowohl auf SenderInnen- wie auf NutzerInnenseite. Mit der zunehmenden multimedialen und damit bandbreitenintensiven Anreicherung des Internets kristallisieren sich neue Verteilungs- und Verfügungskonflikte über Zugang und Vertrieb zu bzw. von multimedialen Inhalten heraus. Gerade die datenintensiven Angebote audiovisueller Medien, die heute in Form von Mediatheken, Streaming-Diensten, IP-TV oder VoIP daherkommen und wesentlicher Bestandteil des „Netz“ als offenem Kommunikations- und Informationsraum sind, veranlassen daher eine Diskussion um gesellschaftliche Bedeutung und strukturelle Abhängigkeiten zwischen der Telekommunikationsindustrie (als Gatekeeper zur Infrastruktur) und den ErzeugerInnen publizistischer Angebote im Internet. Demnach ist das Bestreben der großen Telekommunikationsunternehmen künftig nicht zur den Zugang zur Netzinfrastruktur stärker zu regulieren, sondern auch deren Nutzung und diese – vor allem – differenziert zu bepreisen. Damit verbunden sind neue Wertschöpfungsszenarien der Infrastrukturbetreiber, die das Internet, wie wir es bisher kannten, maßgeblich verändern.

2. Definitionsansätze für Netzneutralität

In der idealtypischen Definition bezeichnet Netzneutralität die Gleichbehandlung (Parität) der physikalischen Einheiten (bits) im Datentransport mittels des TCP/IP-Protokolls (Internet). Daraus ergeben sich folgende Bedingungen:

  • Diskriminierungsfreier Datentransport (Routing) in Bezug auf:
    • EigentümerIn und UrheberIn, Dienst-Typ, Endgerät der Datenpakete
    • Volumen, Herkunft, Zielort der Datenpakete
  • Stärkung der KonsumentInnen bei Wahlfreiheit und Kontrolle von Inhalten, Diensten und Service-Levels (NUI – Network-User Interconnection)
  • Stärkung von InnovatorInnen neue Dienste und Protokolle zu entwickeln und zu nutzen ohne Eingriffe des Netzbetreibers
  • Nicht-diskriminierende Zusammenschaltung von Backbone-Netzen (NNI – Network-Network Interconnection) auf globalem Niveau („Best-Effort-Prinzip“ im Routing/„End-to-End“)

 

Eine realtypische Betrachtung zeigt, dass Netzbetreiber seit Jahren ein sogenanntes Traffic Management anwenden, um die Auslastungseffizienz der Netze zu optimieren. Dazu werden zeit- und qualitätskritische Datenpakete gegenüber anderen bevorzugt, um so ein möglichst effektives Service-Niveau sicher zu stellen und die Netzlast zu minimieren. Entsprechend kann von einem wirtschaftlich diskriminierungsfreien Traffic Management gesprochen werden, welches keine NutzerInnengruppen bevorzugt, benachteiligt oder strukturell ausschließt.

Zunehmend halten jedoch – insbesondere in Mobilfunknetzen – wirtschaftlich motivierte Diskriminierungspraktiken Einzug, bei denen als Bestandteil des Geschäftsmodells gezielt gegen bestimmte Dienste, Anwendungen oder Protokolle (wie etwa VoIP, P2P oder Streaming) vorgegangen wird. Diese Form des Traffic Managements birgt Problematiken in Bezug auf Wettbewerb und KonsumentInnenenschutz. So zeigt ein aktueller BEREC-Report[1] zur Neutralitätsgebarung der europäischen Telekommunikationsanbieter, dass etwa 25% der Mobilfunk- und Festnetz-Carrier aktiv und regelmäßig gegen bestimmte Dienstearten (vornehmlich P2P und VoIP) entweder als Bestandteil ihrer Geschäftsbedingungen und/oder zu Zwecken des Managements von Lastspitzen diskriminieren. Vor dem Hintergrund des in manchen EU-Ländern unzureichend ausgeprägten Wettbewerbs sind dadurch bis zu 50% der europäischen Internet-UserInnen betroffen.

In anderen Worten: Diese NutzerInnen können gar nicht, nur zeitweise oder nur gegen Aufpreis auf bestimmte Dienste bzw. Inhalte des Internets zugreifen.

3. Argumente für und wider die Netzneutralität

Die aktuelle Debatte zur Netzneutralität kristallisiert an der Frage, nach welchen Kriterien die Telekommunikationsbetreiber das Wirtschaftsgut Datentransport diversifizieren dürfen und können, um neue Erlöskanäle zu erschließen. In der klassischen Rolle als Common Carrier sind Telekommunikationsanbieter verpflichtet, einspeisungswilligen KundInnen einen Zugang zu ihren Netzen zu ermöglichen, ohne dabei auf Art, Herkunft, Zielort des Dienstes oder die übertragenen Inhalte Einfluss zu nehmen (sofern keine strafrechtlichen Belange vorliegen). Der Netzzugang muss hierbei zu vernünftigen Preisen gewährt werden. Ziel der aktuellen Entwicklungen ist es jedoch, einen zweiseitigen Markt zu etablieren, der es den Carriern ermöglicht, sowohl von NetzeinspeiserInnen als auch von EndkundInnen Entgelte für den dienste- und inhaltsspezifischen Datentransport zu verlangen.

Vor diesem Hintergrund ist die Ausgestaltung der Netzneutralität seit einigen Jahren Gegenstand von Gesetzgebungsverfahren in den USA und seit spätestens 2009 auch in der Europäischen Union. Telekommunikationsanbieter argumentieren, dass eine Diversifikation im Datentransport eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellt, um zukünftige Kosten des Netzausbaus finanzieren und über entsprechende Mehreinnahmen die bei der Einspeisung erzielt werden, amortisieren zu können. Entsprechend sollen Content und Service Provider, die hohe Datenvolumina generieren (u.a. deshalb, weil sie eine hohe Popularität bei den NutzerInnen genießen), stärker zur Kasse gebeten werden. Weiters erhoffen TelekommunikationsanbieterInnen Mehreinnahmen auf KonsumentInnenseite, wenn es etwa darum geht Dienste wie VoD, VoIP, Hochsicherheits-Dienste bzw. bevorzugtes Routing als Mehrwertpakete an die EndkonsumentInnen weiterzuverkaufen. Der Wettbewerb soll hierbei sicherstellen, dass es zu keinem Machtmissbrauch und ergo zu einem erhofften Wohlfahrtsgewinn aller am Wertschöpfungsprozess beteiligten AkteurInnen kommt.

KritikerInnen der Telekommunikationsbetreiber argumentieren, dass mit der Einführung eines Quality-of-Service (QoS) Modells in den Datentransport die Netzneutralität weitgehend ausgehebelt wird. Ohne Netzneutralität kommt es zu einer technischen Fragmentierung des Internets in regionale Netz-Cluster, die nicht nur kartellrechtlich problematisch sind, sondern weiters zu einer Erhöhung der Markteintrittsbarrieren für Content und Service Provider führen, sowie auch die Kosten für die EndkonsumentInnen steigern. Entsprechend würde eine Abschaffung bzw. eine Einschränkung der Netzneutralität zu einer ungebührlichen Stärkung der Marktmacht von Telekommunikationsbetreibern, aber auch marktdominierenden Inhalte- und Dienstanbietern führen und – wie empirisch vielfach nachgewiesen – auch zu Missbrauch verleiten. Weiters verlieren Telekommunikationsbetreiber ihren Common Carrier-Charakter, da sie implizit und explizit Inhaltanbieter zu Gunsten eigener Angebote (vor allem kostentechnisch) diskriminieren können. Der Public Service Charakter des Internets kann dadurch mit weitreichenden negativen Folgen für die publizistische Vielfalt, die Innovationsdynamik und die KonsumentInnensouveränität zerstört werden.

 

Folgende Szenarien illustrieren unterschiedliche Effekte auf Content Provider (CPs) und Enduser (EUs):

 

Szenario

Beschreibung

Effekte auf CPs

Effekte auf EUs

Regulierung

QoS-based Competition

(Wettbewerb auf Basis der Service-Qualität)

Bepreisung unterschiedlicher Service-Levels nach funktionalen Kriterien

Effizientere Netzauslastung, Qualitätsgarantien

Preiselastizität, Qualitätsgarantien

Markt

Negative Effekte
Tiered Access

(Abgestufter Zugang)

Verlagerung der Investitionen vom neutralen in den nicht-neutralen Bereich der Infrastruktur

Erhöhung der Markteintrittsbarrieren

Vertiefung der digitalen Kluft

Markt

Corporate Bureaucracy

(Zugangsschranken durch Verwertungspolitik)

Exklusive Bereitstellung innovationskritischer technischer Funktionalitäten im nicht-neutralen Bereich der Infrastruktur

Verlangsamte Innovation

Verringertes Angebot / Lock Out

Wettbewerbsrecht Marktaufsicht

Bad Incentive

(Diskriminierung von Konkurrenzangeboten)

Bevorzugung eigener Services gegenüber jenen von FremdanbieterInnen

Lock-Out-Mechanismen durch Diskriminierung

Verringerung der KonsumentInnen-Souveränität

Wettbewerbsrecht Marktaufsicht

Blocking

(Ausschluss von Konkurrenzangeboten)

Verringerung der Content- und Dienste- Vielfalt durch Ausschluss fremder Dienste

Marktabschottung

Verringerung der kulturellen und publizistischen Vielfalt

Wettbewerbsrecht Marktaufsicht

Quelle: Krone und Pellegrini (2012)

4. Netzneutralität in der Europäischen Union

In der Regulierungsgebarung der EU-Mitgliedsstaaten zur Netzneutralität droht eine Fragmentierung des europäischen Telekommunikationsmarktes durch abweichende nationale Regulierungspraktiken und Gesetzgebungen. Während etwa Frankreich, Spanien und Großbritannien durch Maßnahmen wie „Sperren statt Löschen“, die in Gesetzen wie dem britischen Digital Economy Act[1] oder dem französischen Hadopi Gesetz[2] festgeschrieben sind, bereits weitgehend von der Netzneutralität abgerückt sind, haben die Niederlande, Luxemburg und der wallonische Teil Belgiens die Netzneutralität de facto gesetzlich verankert. Zwischen diesen beiden Extrempositionen finden sich die restlichen Länder der EU 27, die mit unterschiedlichen Regulierungsansätzen, vor allem aber in sehr unterschiedlich ausgereiften politischen Diskursen den Regulierungsgegenstand behandeln. Innerhalb dieser Gruppe der „Unentschlossenen“ reicht das Spektrum von einer intensiven Diskussion (z.B. in Deutschland, Österreich, Polen, Schweden), über einen schwach ausgeprägten Diskurs (z.B. Belgien [Flandern], Griechenland, Zypern, Irland, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Bulgarien), bis hin zum kompletten Fehlen des Themas auf den nationalen politischen Agenden (z.B. Estland, Lettland, Litauen, Finnland).

Auf Ebene der EU kreist der Diskurs vornehmlich um die Definition von Transparenzrichtlinien und -vorgaben, die im Sinne des KonsumentInnenschutzes die KonsumentInnensouveränität stärken und so (indirekt) den Wettbewerb stützen. Dieser Transparenzansatz greift jedoch zu kurz und blendet die Marktmacht- und Konzentrationsproblematik auf Seite der Carrier und Einspeiser weitgehend aus. Es ist nachweislich bekannt, dass Carrier durch vertikale Integration zunehmend selbst Content-Services anbieten und diese zu Lasten von konkurrenzierenden Angeboten bevorzugen. Hier bedarf es im Sinne einer Entbündelung von Infrastruktur und Inhalten einer klaren gesetzlichen Regelung, in welchem Ausmaß und zu welchen Bedingungen Carrier in der Lage sein dürfen, Content-Dienste über hauseigene Netze anzubieten.

Wie auch der Dachverband der europäischen Telekommunikationsregulierungsbehörden BEREC[3] in ihrer Untersuchung thematisiert, ist weitgehend offen, inwieweit wirtschaftliche Diskriminierungspraktiken und die dazu nötigen technischen Maßnahmen in die bürgerlichen Grundrechte – allen voran Briefgeheimnis, Rede- und Versammlungsfreiheit – eingreifen. Eine differenzierte Analyse steht hierzu aus.

5. Schlussbetrachtung

Der Regulierungsgegenstand Netzneutralität ist abstrakt und komplex, jedoch in seinen Folgewirkungen – insbesondere gesellschaftspolitisch – weitreichend. Die unterschiedlichen Positionen in der EU bergen die Gefahr der Herausbildung eines fragmentierten europäischen Telekommunikationsmarktes. Entsprechend kann nur eine gesamteuropäische Lösung als sinnvoll und erstrebenswert angesehen werden.

Eine rein wirtschaftlich geführte Diskussion verkennt den öffentlichen Charakter des Internets sowie den öffentlichen Auftrag der Telekommunikationsanbieter als Common Carrier. Ein Bekenntnis zur Netzneutralität trägt dem öffentlichen Charakter des Internets Rechnung und ist gleichzeitig ein Bekenntnis zur Kommunikations- und Meinungsfreiheit und damit zur Sicherung der bürgerlichen Grundrechte.

Entsprechend findet sich der politische Diskurs mit folgenden Spannungsfeldern konfrontiert:

  • Telekommunikations- und Medienregulierung (Wirtschafts- vs. Kulturgut)
  • Zugangsfreiheit und Verfügungsgewalt über Eigentum (Wegerecht vs. Diskriminierung)
  • Netzneutralität und Diversifikationspotentiale im TK-Sektor (Durchleitungsentgelte für Netzeinspeiser und Premiumdienste wie IPTV für Internetuser)

 

Aus wettbewerbspolitischer Dimension lässt sich festhalten:

  • Breitband-Dienste sind in einem nicht-neutralen Internet stärker betroffen als Schmalband, aber schmalbandige Datenlast ist schwer prognostizierbar (kumulative Effekte)
  • QoS-Prinzip hebt die Trennung zwischen Infrastruktur und Content auf
  • Marktmachtproblematik und Lock-In Effekte werden in einem nicht-neutralen Internet verschärft und begünstigen bereits dominante Infrastruktur- und Content-Anbieter
  • Regulative Korrektive (z.B. Marktaufsicht, Wettbewerbsrecht) eignen sich nur bedingt für dynamische, innovations- und diffusionskritische Märkte, da zu behäbig, teuer und langwierig

 

Adverse redistributive Wohlfahrtseffekte auf Content Provider und End User sind im Falle eines unzureichenden politischen Ordnungsrahmens für zweiseitige Märkte absehbar.

Weiterführende Literatur

Krone, Jan / Pellegrini, Tassilo (2012). Netzneutralität und Netzbewirtschaftung. Baden-Baden: Nomos Verlag.

Pellegrini, Tassilo (2012). Quality-of-Service in der Netzbewirtschaftung – Effekte einer eingeschränkten Netzneutralität auf Cloud-basierte Geschäftsmodelle. In: Krone, Jan / Pellegrini, Tassilo (Hg.). Netzneutralität und Netzbewirtschaftung. Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 117–137.

Waltner, Katharina / Pellegrini, Tassilo (2012). Die Netzneutralität aus wettbewerbsökonomischer Sicht. Eine Argumentationsanalyse der EU-Konsultation zu „Offenes Internet und Netzneutralität“. In: Krone, Jan; Pellegrini, Tassilo (Hg.). Netzneutralität und Netzbewirtschaftung. Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 97–116.


[1] s. https://erg.eu.int/doc/consult/bor12_30.pdf (Letzter Aufruf: 01.06.2012)

[2] s. https://www.legislation.gov.uk/ukpga/2010/24/section/47 (Letzter Aufruf: 10.11.2012)

[3] s. https://www.senat.fr/dossier-legislatif/pjl07-405.html (Letzter Aufruf: 10.11.2012)

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