Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Meinungsäußerungsfreiheit im Internet garantiert
1. Offline ist online
2. Staaten müssen handeln
3. Straßburg geht ins Netz
4. Schutz für JournalistInnen
5. Schlechte Nachrichten für „PiratInnen“
6. Keine Verantwortung für Kommentare
1. Offline ist online
Das Internet wurde im Laufe der Zeit immer wieder als „rechtsfreier Raum“ bezeichnet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat allerdings – ganz im Gegensatz zu dieser Behauptung – eine ausführliche Judikatur zum Schutz der Menschenrechte im Internet entwickelt, die im Folgenden überblicksweise dargestellt wird. Besonders angetan haben es dabei den Straßburger Richtern JournalistInnen, BloggerInnen und Kinder. Deutlich schwächer ausgeprägt ist hingegen der Schutz beispielsweise für politischen Online-Protest (vgl. Christian Möhlen, Kapitel 2.2. Gibt es ein Recht auf politischen Online-Protest?)[1].
Grundsätzlich gilt: Was offline verboten ist, ist es auch online. Doch Online-Menschenrechtsverstöße können eine stärkere Wirkung entfalten, weshalb besondere Sorgfalt geboten ist. So lassen sich die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Menschenrechten im Internet in einem Satz fassen. Mit drei wichtigen Fällen mit Onlinebezug tat der EGMR 2012 einen großen Schritt nach vorne: In Yildirim gegen Türkei verbot er Staaten Internzensur ohne Abwägung der Rechte Betroffener; in Mouvement Raëlien Suisse gegen die Schweiz unterstrich er, dass die Abrufbarkeit problematischer Inhalte im Internet durch Kinder die Abwägung zuungunsten der Meinungsäußerungsfreiheiten ausgehen lassen kann; und in Stoll gegen die Schweiz betonte der Gerichtshof, dass Informationsvielfalt im Netz die Anforderungen an die journalistische Sorgfalt wachsen lässt.
Damit plüschten die Straßburger Richter den Judikaturpolster, der BloggerInnen und JournalistInnen eine weiche Landung im Netz garantiert, behutsam auf. Staaten hingegen nimmt er zunehmend in die Pflicht. Zuletzt war mit der Türkei ein Land im Visier der Richter, das sich schon länger einen Namen als Verfechter einer offensiven und nicht allzu feinfühligen Internetzensur gemacht hat. In Yildirim gegen Türkei (2012) bestätigte der EGMR, dass sich der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit nach Artikel 10 der EMRK auch auf das Internet erstreckt und daher unvorhersehbare Blankett-Sperren von ganzen Internetangeboten nicht dem stringenten Ausnahmekatalog genügen.
2. Staaten müssen handeln
Doch der EGMR hat Staaten schon anderes ins Hausaufgabenheft geschrieben: Seiner Judikaturlinie zu positiven Pflichten folgend urteilte der Gerichtshof, dass Staaten neuen Informations- und Kommunikationstechnologien nicht mit legislativer Ignoranz begegnen können. In K.U. gegen Finnland (2008) war es den finnischen Behörden aufgrund der Gesetzeslage unmöglich herauszufinden, wer die Kontaktdaten eines 12-Jährigen auf eine Dating-Webseite gestellt hatte. Dadurch, so urteilte der EGMR, hatte der Staat seine Pflicht verletzt, das Kind und sein Recht auf Privatsphäre zu schützen. Diese Schutzpflicht erstreckt sich auch auf JournalistInnen, wie der 2011 entschiedene Fall Pravoye Delo und Shtekel g. Ukraine bestätigt: Staaten sind verpflichtet, ihr Rechtssystem so einzurichten, dass der effektive Schutz von journalistischer Arbeit auch und gerade im Internet gesichert ist.
Überhaupt sind die Gefahren für Kinder im Netz und die Verfolgung von JournalistInnen ein zentraler Motor des Judikaturzuges zu Privatsphäre und Meinungsfreiheit im Netz. Im Fall Perrin entschied der EGMR schon 2005, dass der Betreiber einer Online-Porno-Seite bereits bei seiner Gratis-Vorschau Altersüberprüfungen einführen muss, um Minderjährige zu schützen. 2012 fügten die Straßburger Richter hinzu, dass der Abwägungsprozess zugunsten einer Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auch durch die Abrufbarkeit problematischer Inhalte im Netz durch Kinder beeinflusst werden kann (Mouvement Raëlien Suisse gegen Schweiz).
3. Straßburg geht ins Netz
Judikate zu Offline-Sachverhalten behalten natürlich ihre Relevanz – und nicht immer nimmt der EGMR jede Möglichkeit wahr, auf das Internet einzugehen. So etwa in Féret gegen Belgien (2009), in dem er die Verurteilung eines belgischen Rechtsaußen-Politikers wegen anstößiger Flugblätter zwar bestätigte, nicht aber deren Veröffentlichung im Internet, auch wenn die Parolen dadurch zweifellos eine viel weitere Verbreitung genossen.[2]
Dennoch ist gut, dass der EGMR die Erstreckung seiner Judikatur auf Online-Sachverhalte recht unaufgeregt vollzieht. So kommen KommentatorInnen gar nicht erst in Versuchung, die ausgefeilte Rechtsprechung zu Hassreden zu hinterfragen. Denn klar ist: Auch online darf nicht alles gesagt werden, was man möchte. Die 1976 in Handyside gefundene Wendung, nach der auch Meinungen, die schockieren, beleidigen, verstören, zu schützen sind, gilt zwar nach wie vor; Toleranz und Menschenwürde als Grundlagen des europäischen Menschenrechtsschutzsystem sind indes stets im Auge zu behalten, wenn Hassrede vor den Kadi kommt. (Vgl. Viktor Szabados, Kapitel 3.6. Hassreden im Internet)
Auch online gilt, dass Hassrede selbst nicht geschützt wird, die Berichterstattung über sie aber schon (vgl. Jersild g. Dänemark (1994)). Die Funktion der Medien als Wachhunde in demokratischen Gesellschaften überwog den negativen Einfluss der Äußerungen. Im Internet darf wie auch offline nicht zu religiös motiviertem Hass aufgerufen werden (Norwood v. Vereinigtes Königreich (2004)) und Holocaust-Leugnung ist in allen Medien verboten (Honsik gegen Austria (1995)). Dies lässt sich unter anderem daraus ableiten, dass der Gerichtshof in Karatas gegen Türkei (1999) die korrodierende Wirkung einer Aussage auf die öffentliche Ordnung in direktem Verhältnis zu deren Verbreitung wachsen sieht. Eine Zeitung findet stärkere Verbreitung als ein Flugblatt, ein Blog wird häufiger gelesen als so manche Zeitung.
Auch Luxemburg äußerte sich schützend zur schönen neuen Onlinewelt: In Scarlet Extended (2011) beschied der Europäische Gerichtshof, dass ein Gesetz, das Internetdiensteanbieter dazu verpflichtet, Filtersoftware zu installieren, um damit illegale Inhalte aufzuspüren, gegen europäisches Datenschutzrecht und die Meinungsäußerungsfreiheit verstößt. In SABAM (2012) unterstrich der EuGH, dass auch soziale Netzwerke nicht gezwungen werden können, Filtersoftware zum Aufspüren von Copyrightverstößen zu einzubauen.
4. Schutz für JournalistInnen
JournalistInnen fanden in Straßburg auch 2012 einen Freund. In Stoll gegen die Schweiz (2012) betonte die Große Kammer, das die Beachtung journalistischer Sorgfalt gerade in einer Zeit des Austausches riesiger Informationsmengen im Netz und außerhalb stark zunimmt. Diese Sorgfalt umfasst auch Internetarchive, die vom Schutzumfang des Artikel 10 EMRK umfasst sind. In Folge von Times Newspapers Ltd egen. Vereinigtes Königreich (2009) sind Zeitungen verpflichtet, gedruckte Korrekturen auch bei archivierten Artikeln ohne Zeitlimit anzufügen.
Was für Zeitungen gilt, ist auch auf Blogs anwendbar und was für JournalistInnen gilt, müssen sich in Zeiten der „citizen journalists“ auch BloggerInnen vor Augen führen. In Ovchinnikov gegen Russland urteilte der Gerichtshof etwa, dass eine vorangegangene Veröffentlichung im Internet nicht gegen eine Verurteilung wegen einer Wiederveröffentlichung immunisiert. Aber wenn eine Information einmal im Netz ist, wie er in Editions Plon gegen Frankreich (2004) ausführte, sei sie jedenfalls weniger schutzwürdig. In Fatullayev gegen Aserbaidschan (2010) betonte Straßburg, dass jeder Vorwurf eines Fehlverhaltens die Pflicht mit sich zieht, eine faktische Grundlage nachzuweisen. Dies gilt auch, wenn eine JournalistIn „privat“ bloggt.
Schließlich erinnerte der EGMR in Polanco Torres und Movilla Polanco gegen Spanien (2010) daran, dass sich journalistische Sorgfalt nicht darin erschöpft, einen Artikel aus einer Zeitung nachzudrucken, wenn dieser Anschuldigung der Geldwäsche enthält. In diesem bemerkenswerten Fall fand der Gerichtshof nichts dabei, dass sich die AutorInnen des Originalartikels freibeweisen konnten und im nationalen Verfahren freigesprochen wurden, während die HerausgeberInnen der Zeitung, in welcher der Nachdruck erschien, verurteilt wurden. Die Anschuldigungen hatten zwar eine entsprechende Tatsachenbasis, aber diese hatten sie nicht überprüft, weshalb die unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt war.
5. Schlechte Nachrichten für „PiratInnen“
Schlechte Nachrichten gibt es für „PiratInnen“: 2013 bestätigte der EGMR in Neij und Sunde Kolmisoppi gegen Schweden, dass eine strafrechtliche Verurteilung und hoher Schadenersatz für Verstöße gegen nationale Schutzgesetze für geistiges Eigentum durch die Gründer der Filesharing-Plattform „The Pirate Bay“ in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Eigentumsrechte anderer und zur Verhinderung von Kriminalität notwendig sind.
6. Keine Verantwortung für Kommentare
BetreiberInnen von Seiten mit Kommentarfunktion können übrigens aufatmen. Während der Gerichtshof noch in Sürek gegen Türkei (1999) die Verantwortung für LeserInnenbriefe durch die Auswahl und Aufnahme durch die Redaktion begründet sah, lehnte er in Renaud gegen France (2010) die Verurteilung eines Webmasters für Kommentare auf dessen Seite im Rahmen einer emotional geführten öffentlichen Debatte ab. Ob dies auch für die BetreiberInnen eines Online-Nachrichtenportals in Hinblick auf anonyme Anschuldigung gilt, wird Straßburg in dem seit 2011 anhängigen Fall Delfi AS gegen Estland entscheiden müssen. Eingeweihte Auguren tippen auf Ja.
Sollten die SeitenbetreiberInnen aber doch verurteilt werden und sich im Gefängnis wiederfinden, bleibt ihnen gleich wieder die Hoffnung auf den EGMR. In Jankovskis gegen Litauen (anhängig seit 2010) werden die Richter entscheiden müssen, ob GefängnisinsassInnen ein Recht auf Internetzugang haben.
[1] vgl. auch bspw. „Online-Demonstranten können sich nicht aufs Demonstrationsrecht berufen“ unter: https://www.heise.de/tp/blogs/8/152568 (Letzter Aufruf: 31.5.2013)
[2] Nachzulesen beispielsweise unter https://merlin.obs.coe.int/iris/2009/8/article1.de.html (Letzter Aufruf: 6.4.2013)