2.2. Gibt es ein Recht auf politischen Online-Protest? (Christian Möhlen)

Menschenrechtlicher Schutz und digitaler ziviler Ungehorsam

1. Ausgangslage
2. Digitale Protestmittel
3. Menschenrechte und digitaler Protest
4. Digitaler ziviler Ungehorsam
5. Ergebnis
Weiterführende Literatur

 

1. Ausgangslage

Politische AktivistInnen haben für die Verbreitung ihrer Anliegen schon immer auf neue Kommunikationsmittel zurückgegriffen, das gilt auch für das Internet. Digitaler Aktivismus tritt in unterschiedlichsten Formen auf, da AktivistInnen auf eine große Bandbreite an Methoden zurückgreifen können. Politischer Aktivismus muss dabei nicht ausschließlich in der virtuellen Sphäre stattfinden, sondern kann auch eine Verbindung von Offline- und Online-Methoden sein. Der Protest kann rechtmäßig oder illegal sein. Es ergibt sich also ein vielschichtiges, heterogenes Bild.

Aktivismus im Internet lässt sich vereinfacht, seinen unterschiedlichen Zwecken entsprechend, in drei Ebenen unterteilen:

  • Informations- und Aufklärungsarbeit
  • Organisation und Mobilisierung
  • (Re-)Aktion und Protest

Im Folgenden wird auf die dritte Ebene genauer eingegangen. Darunter fallen neue Formen von politischem Protest, die sich im Internet entwickelt haben und als besonders öffentlichkeits- und medienwirksam gelten, wie zum Beispiel das „HackerInnenkollektiv“Anonymous, das durch Berichte über seine Aktionen inzwischen auch abseits der „Online-Szenen“ ein Begriff ist.

Bei der Betrachtung des Umfelds elektronischer politischer Proteste von NetzbürgerInnen fällt in jüngerer Vergangenheit öfter das Schlagwort „Hacktivismus“. Dieser Begriff wird je nach Zusammenhang und NutzerIn teilweise sehr unterschiedlich verwendet: Beispielsweise wird Hacktivismus von einigen AutorInnen auf illegale Protestformen beschränkt – und so zur Abgrenzung von digitalem Aktivismus gebraucht. Andere hingegen vertreten die Auffassung, dass Hacktivismus eine Unterform von digitalem Aktivismus sei und konnotieren den Begriff wesentlich positiver. Dieser schwierige Begriff wird daher im Weiteren nicht benutzt. Digitaler Protest kann auch mit HackerInnentechniken erfolgen, doch gibt es darüber hinausgehend viele Protestformen, für die Hacken keine Rolle spielt. Im Folgenden wird digitaler Protest im Allgemeinen und digitaler ziviler Ungehorsam im Speziellen näher beleuchtet werden.

Zunächst werden dazu einzelne Beispiele für digitale Protestformen exemplarisch dargestellt, um danach auf Grundprobleme des Schutzes und der Einschränkungen digitalen politischen Protests durch die Grund- und Menschenrechte einzugehen. Schließlich wird ziviler Ungehorsam in der digitalen Sphäre beleuchtet.

2. Digitale Protestmittel

Digitale Protestmittel sind in ihren Erscheinungen sehr vielfältig, wie die folgenden Beispiele illustrieren:

Die Distributed-Denial-of-Service-Attacke (DDoS) ist eine Form des Protests, die sich bereits Anfang der 90er Jahre entwickelt hat. Diese Protestform wurde von AktivistInnen wiederholt als „virtuelles Sit-in“ oder als Onlinedemonstration bezeichnet.

Bei DDoS kommt es zu verteilten Dienstangriffen mehrerer Systeme, bei der meist mit Hilfe von spezieller Software ein Internetdienst bzw. Server durch eine große Anzahl an gleichzeitigen Anfragen überflutet wird. Dadurch beantwortet der Server Anfragen nur noch stark verlangsamt oder bricht gänzlich zusammen. Daraus folgt die Unerreichbarkeit des Dienstes oder der Webseiten für Dritte.

Eine andere, weit verbreitete Form des Protests ist das Defacement. Dabei hackt sich ein/e AktivistIn in einen Server und übernimmt eine Zielwebseite, um eine Nachricht auf deren Startseite zu platzieren oder die ganze Seite durch eigenen Inhalt zu ersetzen. Auf diesem Weg werden politische Botschaften gegen den Willen der WebseiteninhaberInnen verbreitet.

Ein weiteres Mittel ist das Eindringen in Computersysteme und -datenbanken, um Informationen zu erlangen und diese anschließend öffentlich zugänglich zu machen. Beispiele hierfür sind die Veröffentlichung gestohlener KundInnendaten von Unternehmen oder die von Anonymous-Mitgliedern gehackten Daten des Sicherheitsunternehmens Stratfor, die später auf WikiLeaks veröffentlich wurden.

Ein ebenfalls in den letzten Monaten in den Medien behandeltes Phänomen ist der Shitstorm. Darunter versteht man die Summe meist spontaner aber geballter Reaktionen der Netzgemeinde auf aktuelle Vorkommnisse oder Erklärungen von PolitikerInnen, von in der Öffentlichkeit stehenden Personen oder Unternehmen. Die Shitstorm-TeilnehmerInnen posten Kommentare auf Webseiten, Blogs oder Social Media-Seiten von betroffenen Personen bzw. Unternehmen, um ihrer ablehnenden Haltung diesen gegenüber Ausdruck zu verleihen. Es geht vielfach nicht um eine sachliche Auseinandersetzung, sondern um die Überflutung des Zielsubjekts mit Kommentaren. Shitstorms sind meist unkontrolliert und nehmen im Verlauf zunehmend stark emotionalisierte, beschimpfende und beleidigende Formen an.

Proteste können aber auch in wesentlich sachlicheren Formen erfolgen wie z.B. mit einem Online-Blackout. Bei diesem schalten die BetreiberInnen von Webseiten aus Protest ihr Angebot für einen bestimmten Zeitraum ab bzw. ersetzen die Startseite durch eine schwarze Seite mit der Erklärung, warum sie den Dienst vorübergehend nicht anbieten. Ein Beispiel war der eintägige Online-Blackout des englischen Wikipedia-Angebots aus Protest gegen die geplanten internationalen Antipiraterie-Abkommen SOPA und PIPA.

Ein weiteres, weitverbreitetes Phänomen kollektiven Protests sind E-Mail-Kampagnen mit Boykottaufrufen oder auch Mitteilungen über ein Social-Media-Netzwerk, um bestimmte politische Positionen zu unterstützen (beispielsweise „Liken“ auf Facebook oder die Teilnahme an einem virtuellen Termin).

Kollektive Aktionen können aber auch in „Social-Media-Action-Bereiche“ von NGOs eingebettet sein, die die Meinungsäußerungen bündeln und grafisch aufarbeiten und sie auf diese Weise für Außenstehende sichtbar machen (z.B. Online-Paraden oder virtuelle Menschenketten).

Ob diese vielen Möglichkeiten neuer Protestformen im Netz allerdings zur Demokratisierung und einer Stärkung der Zivilgesellschaft führen, wird besonders in den USA kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite stehen BefürworterInnen, die auf die neu entstandenen Formen von Aktivismus, die gesunkenen Organisations- und Kommunikationskosten und die gestiegenen TeilnehmerInnenzahlen verweisen. Auf der anderen Seite vertreten SkeptikerInnen die Meinung, dass im Netz vielfach „zahnloses“ Massenverhalten zu beobachten sei, wie das bloße Mitteilen der eigenen Meinung in sozialen Netzwerken (sog. Slacktivism oder Clicktivism). Diese Ausdrucksformen seien nicht mit nachhaltigem politischem Aktivismus vergleichbar, bei dem sich AktivistInnen dauerhaft engagieren und gegebenenfalls auch persönliche Risiken eingehen, um eine gesellschaftliche Veränderung zu bewirken. Ein weiterer Kritikpunkt wird in der „politischen“ Neutralität von technischen Entwicklungen gesehen. Das Internet und die damit vorhandenen neuen Kommunikationsmethoden könnten nicht nur von NetzbürgerInnen und AktivistInnen eingesetzt werden, sondern erleichterten gleichzeitig die Arbeit von Sicherheits- und Geheimdiensten, besonderes in repressiven Regimen zur Überwachung und Unterdrückung von politischen GegnerInnen.

Gerade vor dem Hintergrund dieser Gefahr drängt sich die Frage nach dem Schutz digitalen Protests durch die Menschenrechte auf.

3. Menschenrechte und digitaler Protest

Der Menschenrechtsschutz gilt online wie offline (s. Matthias C. Kettemann, Kapitel 2.1. Neue Menschenrechte für das Internet?). Grund- und Menschenrechte machen vor der virtuellen Sphäre nicht Halt. Daraus folgt, dass sich politische AktivistInnen auch im virtuellen Raum auf ihre Rechte berufen können.

Allerdings gibt es kein dezidiertes Recht auf Online-Protest. Ein Problem besteht zudem darin, dass Entscheidungen von internationalen Gerichten oder nationalen Höchstgerichten mit Bezug zu digitalen Protesten vielfach noch ausständig sind. Daraus folgt ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit.

Grundsätzlich müssen die rechtlichen Kriterien zu traditionellen Protestaktivitäten auf den Onlinebereich übertragen werden. Ob und wie die einzelnen Schutzbereiche der jeweiligen Menschenrechte auf digitalen Protest anwendbar sind, ist nicht nur eine Frage des Einzelfalls, sondern auch teilweise umstritten. Im Zentrum steht die Übertragungsfähigkeit und Vergleichbarkeit der Protestmittel, wobei die Eigenheiten des digitalen Protests aber nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Letztlich muss auch der Schutzzweck der jeweiligen Norm berücksichtigt werden.

Diese Übertragung kann im Einzelfall schwierig sein, wie aktuelle Probleme in Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit im Internet verdeutlichen: Allein die Bezeichnung einer DDoS durch die AktivistInnen als Onlineversammlung führt sicherlich nicht dazu, dass sie dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit unterliegt. Ist es aber überzeugend, die virtuelle Versammlungsfreiheit gänzlich abzulehnen, wie dies aktuell beispielsweise in Deutschland vielfach vertreten wird? Wie könnte der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit im Internet definiert werden? Was bedeutet beispielsweise friedlich im virtuellen Raum – bzw. wann liegt bei virtuellen Protesten Gewalt vor?

Onlineproteste können je nach Art und Inhalt in den Schutzbereich verschiedener Menschenrechte fallen. Dies sind insbesondere Meinungs- und Informationsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Persönlichkeitsrecht und Datenschutz, Kunstfreiheit oder auch das Petitionsrecht. Auch speziellere Rechte wie Glaubens- und Religionsfreiheit oder das Recht auf Bildung können im Einzelfall Anwendung finden. Eine e-Petition als Protest gegen die Regierungspolitik unterliegt eben einem anderen Recht, als eine politische Diskussionsrunde mehrerer Personen in einem Onlineforum wie Google Hangout. Geschützt sind aber gleichwohl beide.

Auch die Form des staatlichen Eingriffs muss für die Anwendung der jeweiligen Menschenrechte berücksichtigt werden. So wird das Filtern einer Nachricht durch staatliche Behörden an der Meinungs- und Informationsfreiheit zu messen sein, wohingegen das Ausspionieren eines privaten Rechners, auf dem eine E-Mail gespeichert ist, in den Bereich des Persönlichkeits- oder Datenschutzes fällt (in Deutschland entwickelte das Bundesverfassungsgericht sogar ein eigenes Grundrecht auf digitale Intimsphäre mit der etwas sperrigen Bezeichnung „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“).

Obwohl die Menschenrechte digitalen politischen Protest durchaus erfassen, ist wesentlich zu beachten, dass diese Rechte nicht schrankenlos gewährleistet werden. Wenn die Menschenrechte offline wie online gelten, so erstreckt sich dies auch auf ihre Grenzen und Schranken.

An der Meinungsäußerung wird dies deutlich: Es mag rechtlich keinen Unterschied machen, ob diffamierende, verletzende Meinungsäußerung offline oder online getätigt wird. Unabhängig von der Verbreitungsform bleibt die Äußerung rechtswidrig.

Daher müssen die Rechte Dritter mit den Rechten der AktivistInnen abgeglichen werden. Proteste können zu Beeinträchtigungen und Verletzungen des Daten- und Eigentumsschutzes anderer führen, aber auch den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beeinträchtigen. Bei der Bestimmung, welche Beeinträchtigungen Dritte hinnehmen müssen, können für digitale Protestformen die Kriterien, die die internationalen Gerichte und jeweiligen nationalen Gerichte im Zusammenhang mit traditionellen Protesten entwickelt haben, eine hilfreiche Richtschnur bilden.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Ubiquität des Internets. Politischer Online-Aktivismus macht vor staatlichen Grenzen nicht halt. So können die nationalen Rechtsordnungen ein unterschiedliches Maß an Schutz für politische Aktivitäten bieten; ein und dieselbe Online-Kampagne kann in Schweden geschützt sein und in Russland der Internetzensur unterliegen.

Zudem werden AktivistInnen in vielen Staaten verfolgt. Weltumspannende Online-Aktivitäten ändern nichts daran, dass sich AktivistInnen zumeist physisch weiter in ihrem Heimatland aufhalten. Daher ist hervorzuheben, dass politischer Onlineprotest jenseits der nationalen Rechtsordnungen auch durch die internationalen Menschenrechtsinstrumente (z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention und den Zivilpakt der Vereinten Nationen) geschützt wird.

Neben den internationalen Menschenrechtsschutzmechanismen gibt es auf internationaler Ebene auch Bestrebungen zur Vereinheitlichung nationaler rechtlicher Standards in Bezug auf das Internet. Ein Beispiel ist das Übereinkommen des Europarates über Computerkriminalität aus dem Jahr 2001[1], auf dessen Grundlage die Vertragsstaaten ihre nationalen Strafrechtsregelungen angepasst haben. Auch Fälle von Online-Protest sind von diesen Regelungen erfasst. Aufgrund des Übereinkommens sind DDoS in vielen Rechtsordnungen strafbar. Auch Defacements oder der Diebstahl von Daten können strafrechtswidrig sein.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass politischer Protest mit digitalen Mitteln grundsätzlich durch Grund- und Menschenrechte geschützt ist, wobei im Einzelfall nach Form und Durchführung des Protests untersucht werden muss, welches Recht einschlägig ist. Auch ist die Form des staatlichen Eingriffs für die Einordnung von Bedeutung. Die Reichweite der einzelnen Menschenrechte ist jedoch für den Online-Bereich noch nicht abschließend geklärt. Unabhängig davon gelten für politischen Protest im Internet auch Schranken und Grenzen.

4. Digitaler ziviler Ungehorsam

Die Rechtsfragen von Zulässigkeit und Grenzen digitalen Protests sind für AktivistInnen oft nicht der alleinige Maßstab bei der Auswahl von Protestmitteln: In einer Rechtsordnung kann eine bestimmte Form von politischem Aktivismus verboten sein, aber AktivistInnen können diese Protestaktion dennoch als legitim erachten. In diesen Konstellationen stehen Gerechtigkeitsbewusstsein und die tatsächlichen (rechtlichen oder sozialen) Verhältnisse in Widerspruch. Es kommt zu einem Spannungsverhältnis von Recht und Moral, von Legalität und Legitimität.

Werden bewusste, öffentliche Regelverletzungen zur Aufmerksamkeitserlangung für ein Protestanliegen als Mittel eingesetzt, spricht man (auch) von zivilem Ungehorsam. Diese Proteste bewegen sich zwischen symbolischer und direkter Aktion.

Allerdings bestehen auch für den Begriff „ziviler Ungehorsam“ Definitionsprobleme. Er ist ein politischer Begriff, der insbesonders in politischen Auseinandersetzungen für die Legitimation eigener Aktionen eingesetzt wird. Ziviler Ungehorsam ist begrifflich prinzipiell positiv belegt und wird daher gerne von AktivistInnen zur Selbstbeschreibung ihrer Aktionen gewählt. Grund dafür sind auch prägende Beispiele des erfolgreichen Einsatzes von zivilem Ungehorsam in politischen Bewegungen aus der jüngeren Geschichte wie durch Mahatma Gandhi oder Martin Luther King.

Aus rechtlicher Perspektive stellt ziviler Ungehorsam jedoch keinen weiteren Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund im strafrechtlichen Sinne dar. In einigen Rechtstaaten kann ziviler Ungehorsam allerdings in engen Grenzen bei der Strafbemessung Beachtung finden, indem er als Milderungsgrund berücksichtigt wird (z.B. in Deutschland oder in der Schweiz).

Wichtig ist es daher in den Vordergrund zu stellen, dass ziviler Ungehorsam weniger die rechtliche Sphäre betrifft (Legalität), als eine Frage von Ethik und Moral (Legitimität) ist.

Was als (ethisch) zulässig angesehen wird, hängt auch vom politischen Standpunkt ab. Eine radikale AnarchistIn wird ein viel weiteres Verständnis von zivilem Ungehorsam vertreten als eine gemäßigte DemokratIn, die grundsätzlich den Rechtsstaat westlicher Prägung akzeptiert. Trotz dieses Grundproblems ist der Begriff aber nicht völlig beliebig inhaltlich aufladbar oder von rein persönlicher Interpretation abhängig.

Wird ziviler Ungehorsam als Fremdbeschreibung für politische Proteste genutzt, so bedarf es objektiver Bestimmungskriterien. Wann aber ist eine Protestform ethisch vertretbar? Welche Kriterien muss politischer Protest im Internet erfüllen, um als legitimer digitaler ziviler Ungehorsam eingestuft werden zu können?

Philosophen wie John Rawls oder Jürgen Habermas haben in ihren Theorien Vorschläge für objektive Kriterien gemacht.

Rawls definiert zivilen Ungehorsam als einen „public, nonviolent, conscientious yet political act contrary to law usually done with the aim of bringing about a change in the law or the policies of the government.“[2] Die AktivistIn müsse allerdings bereit sein, die rechtlichen Konsequenzen ihres Protests zu tragen.

Eine ähnliche Definition, basierend auf einem engen Verständnis des zivilen Ungehorsams, formuliert auch Habermas:

„Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.“[3]

Vier Grundelemente lassen sich für die Einstufung eines Rechtsbruchs als Akt zivilen Ungehorsams aus diesen Definitionsversuchen entnehmen:

  • Öffentlichkeit (Ankündigung gegenüber den Behörden)
  • Gewaltlosigkeit
  • Bewusstsein (moralische, ernst gemeinte Überzeugung)
  • prinzipielle Rechtstreue (grundsätzliche Akzeptanz des Systems und Bereitschaft, Konsequenzen der Aktion zu tragen)

Dennoch ist die Reichweite der einzelnen Elemente umstritten. KritikerInnen werfen Rawls oder Habermas vor, zu enge Definitionen zu wählen, die das gewünschte Ergebnis vorherbestimmen. Teilweise wird sogar vertreten, dass ein gewisses Maß an Gewalt bei zivilem Ungehorsam zulässig sein müsse, um überhaupt die nötige Aufmerksamkeit zu erlangen.

Trotz der Kritik lassen sich diese Prinzipien generell auf digitale Proteste und somit auf Formen digitalen zivilen Ungehorsams übertragen. Allerdings ergeben sich auch hier Folgefragen und Probleme. Wann ist digitaler ziviler Ungehorsam gewaltfrei? Was bedeutet Gewalt im Zeitalter der Informationsgesellschaft und Cyberattacken? Muss dafür ein physisches Element vorliegen oder reichen auch Formen von struktureller Gewalt oder psychischer Zwangswirkung aus?

An dieser Stelle schließt sich der Kreis: Die Frage der Übertragung von Begriffen oder deren Anwendung auf eine veränderte Realität stellt sich gleichermaßen im moralischen wie im rechtlichen Kontext. Definitionen haben konkrete Auswirkungen, wie ein Beispiel aus dem internationalen Recht verdeutlicht: Bricht ein Staat das allgemeine Gewaltverbot (Art. 2 IV UN-Charta) und ist die Aktion darüberhinaus als bewaffneter Angriff zu qualifizieren, so hat der angegriffene Staat das Recht zur Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta). Das kann im Extremfall bedeuten, dass eine Cyberattacke – sollte diese als bewaffneter Angriff definiert werden – rechtmäßig mit militärischer, physischer Gewalt beantwortet werden könnte.

5. Ergebnis

Die Veränderungen der (politischen) Kommunikationsmittel, welche die schnellen technischen Entwicklungen auslösen, stellen die Rechtsordnungen vor große Herausforderungen. Einige Probleme und Konflikte der digitalen Sphäre sind altbekannte Konstellationen in bloß neuem Gewand und daher mit den bestehenden Menschenrechten lösbar. In anderen Bereichen aber werden in Zukunft neue Regelungen, besonderes auf internationaler Ebene, erforderlich sein. (Vgl. Matthias C. Kettemann, Kapitel 2.1. Neue Menschenrechte für das Internet? bzw. als Gegenstandpunkt: Hans Christian Voigt, Kapitel 1.2. Rechte eines jeden Menschen _am_ Internet.)

Mit Blick auf zivilen Ungehorsam sollte man nicht vergessen, dass er Zeichen einer aktiven Zivilgesellschaft ist. AktivistInnen streben Einfluss auf Politik und Veränderungen der Rechtssysteme mit Hilfe von Methoden außerhalb der etablierten staatlichen Organe an. Für die AktivistInnen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung war der zivile Ungehorsam ein zentrales Mittel der politischen Auseinandersetzung zur Abschaffung der Rassentrennung in den USA. Eines der ersten Sit-ins der Geschichte wurde von vier afroamerikanischen StudentInnen initiiert, als sie sich an die Bar eines Restaurants in Greensboro (North Carolina) setzten, das ausschließlich für Weiße reserviert war. Dieser Akt zivilen Ungehorsams war ein Meilenstein für die Überwindung der US-amerikanischen Segregationspolitik.

Ziviler Ungehorsam ist immer auch mit dem Einsatz neuer, nicht etablierter Methoden in der politischen Auseinandersetzung verbunden. Er hat ein (ver)störendes Element, das für Unruhe sorgt und gesellschaftliche Spannungen sichtbar macht. Auch die neuen Erscheinungsformen digitalen zivilen Ungehorsams, die von der Zivilgesellschaft eingesetzt werden, haben das Potential, zu einer Veränderung und Verbesserung sozialer und politischer Verhältnisse beizutragen.

Weiterführende Literatur

Gladwell, M. (2010). Small Change. Why the revolution will not be tweeted. In The New Yorker vom 4. Oktober 2010. https://www.newyorker.com/reporting/2010/10/04/101004fa_fact_gladwell?currentPage=all (Letzter Aufruf: 15.11.2012)

Möhlen, C. Das Recht auf Versammlungsfreiheit im Internet. Anwendbarkeit eines klassischen Menschenrechts auf neue digitale Kommunikations- und Protestformen, MMR 2013, 221–230.

Morell, A. (2001). Online-Aktivismus: Vom virtuellen Sit-In bis zur digitalen Sabotage. In com.une.farce, Zeitschrift für kritik im netz und bewegung im alltag, Nr. 5. (Letzter Aufruf: 17.11.2012)

Morozov, E. (2011). The net delusion: The dark side of Internet freedom. New York: Public Affairs.

Pabst, A. (2012). Ziviler Ungehorsam: Annäherung an einen umkämpften Begriff. In APuZ, Nr. 25/26. https://www.bpb.de/apuz/138281/ziviler-ungehorsam-annaeherung-an-einen-umkaempften-begriff?p=all (Letzter Aufruf: 18.11.2012)

Shirky, C. (2010). The Twitter Revolution: more than just a slogan. In: Prospect Magazine vom 6. Januar 2010. https://www.prospectmagazine.co.uk/2010/01/the-twitter-revolution-more-than-just-a-slogan/ (Letzter Aufruf: 19.11.2012)

Zuckerman, E. (2011) Cute Cats and The Arab Springs: When Social Media Meet Social Change, Vortrag vom 20. November 2011 in der Vancouver Human Rights Lecture Serie in Vancouver, CBC Radioausstrahlung am 09. Dezember 2011, Podcast: https://podcast.cbc.ca/mp3/podcasts/ideas_20111209_27861.mp3 (Letzter Aufruf: 19.11.2012)

Anmerkung

Die Ausführungen in diesem Artikel stellen eines der Forschungsergebnisse des laufenden Dissertationsvorhabens dar.


[2] Rawls, J. (1971). A Theory of Justice, Cambridge, Massachusetts: Belknap Press of Harvard University Press, Kapitel 6 (dt. Ausgabe (1975). Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt: Suhrkamp), S. 364.

[3] S. Habermas, J. (1983). Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik. In P. Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 29–53, S. 35.

0 Antworten zu “2.2. Gibt es ein Recht auf politischen Online-Protest? (Christian Möhlen)

  1. Pingback: Die Thesen im Detail | Netzpolitik in Österreich

  2. Pingback: 5.1. Schutz aus Straßburg (Matthias C. Kettemann) | Netzpolitik in Österreich

  3. Pingback: Hassreden im Internet | Elnökség Tudósítói

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.