3.5. Weltöffentlichkeit (Stephan Schlögl)

Ein Fallbeispiel zu Rio+20 auf Twitter

1. Öffentlichkeit – wozu?
2. Globalisierte Öffentlichkeit
3. Rio+20 auf Twitter
4. Zugang
5. Ebenbürtigkeit
6. Ungleichverteilung
7. Zersplitterter Diskurs
8. Schlussfolgerungen

WWW meint world wide web. Diesen drei Buchstaben hängt die Vorstellung an, das Internet würde uns in ein globales Netzwerk einflechten, in dem informiert, debattiert und zunehmend auch revoltiert wird, Diskussionsprozesse hätten sich internationalisiert und die GesprächsteilnehmerInnen seien heute über den ganze Erdball verteilt. Diese Idee einer Weltöffentlichkeit geistert vermutlich durch viele Köpfe, und zwar nicht nur durch jene der sogenannten „digital natives“.

Auf welchen Prämissen eine solche Idee aufbaut, welche Voraussetzungen sie zu erfüllen hätte und inwiefern sich letztere im Netz bereits umgesetzt sehen, soll hier anhand der Ergebnisse einer Fallstudie zu Twitter und der Kommunikation rund um die „Konferenz der Vereinten Nationen über Nachhaltige Entwicklung“ 2012 (kurz Rio+20) aufgezeigt werden.

1. Öffentlichkeit – wozu?

Die wissenschaftliche Konzeption des Öffentlichkeitsbegriffs geht zu weiten Teilen auf die Arbeit Jürgen Habermas’ zurück, der 1962 mit seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ einen ersten Grundstein gelegt hat. Es handelt sich dabei um eine historisch-soziologische Aufarbeitung der Öffentlichkeitsstrukturen seit dem 15. Jahrhundert. Seinen normativen Ansatz illustriert Habermas am Bild des Kaffeehauses des 17. und 18 Jahrhunderts, wo sich „die zum Publikum versammelten Privatleute […] anschickten, die öffentliche Gewalt zur Legitimation vor der öffentlichen Meinung zu zwingen“[1]. Die Öffentlichkeit beansprucht als Forum die Arbeit der EntscheidungsträgerInnen zu legitimieren – oder eben nicht. Dieser Anspruch impliziert jedoch, dass es sich hier nicht um ein direktes Herrschaftsbestreben handelt, sondern vielmehr ist es deklariertes Ziel der Sache, Herrschaft aufzulösen[2].

Habermas’ Habilitationsschrift hieße wohl nicht „Strukturwandel“, wenn sie sich nicht mit Veränderungen beschäftigen würde. Jene Öffentlichkeit, die in den Kaffeehäusern und Salons des 17. und 18. Jahrhunderts dem normativen Konzept noch nahe genug kam, um sie zur Verbildlichung des Ideals zu benutzen, verfällt im 19. und 20. Jahrhundert zusehends. Diesen komplexen Prozess analysiert Habermas als sozialen Strukturwandel und politischen Funktionswandel. Ersterer manifestiere sich als Wandel, von einem „kulturräsonierenden“ zu einem „kulturkonsumierenden“ Publikum, der wie folgt beschrieben wird.

„Funk, Film und Fernsehen bringen den Abstand, den der Leser zum gedruckten Buchstaben einhalten muß, gradweise zum Verschwinden – eine Distanz, die die Privatheit der Aneignung ebenso verlangen, wie sie die Öffentlichkeit eines räsonierenden Austausches über das Gelesene erst ermöglichte. Mit den neuen Medien ändert sich die Kommunikationsform als solche; sie wirken darum, in des Wortes strikter Bedeutung, penetranter als die Presse je es vermochte. Das Verhalten des Publikums nimmt unter dem Zwang des ≫Don’t talk back≪ eine andere Gestalt an. Die Sendungen, die die neuen Medien ausstrahlen, beschneiden, im Vergleich zu gedruckten Mitteilungen, eigentümlich die Reaktion des Empfängers. Sie ziehen das Publikum als Hörende und Sehende in ihren Bann, nehmen ihm aber zugleich die Distanz der ≫Mündigkeit≪, die Chance nämlich, sprechen und widersprechen zu können.“[3]

„Strukturwandel der Öffentlichkeit“ erschien erstmals 1962. Ins Englische übersetzt wurde das Buch jedoch erst 1990 und schließlich in den USA neuerlich stark rezipiert. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in den 90er Jahren jenes Medium aufkam, dem diese Publikation gewidmet ist, das Internet. Die Faszination, die dem Web zukam, lässt sich mitunter dadurch erklären, dass es den BenutzerInnen, zumindest in technischer Hinsicht, jene Mündigkeit zurückgibt, die Habermas 30 Jahre zuvor im obigen Zitat ansprach. KonsumentInnen werden zu engagierten NutzerInnen, sie werden in diesem Sinn erneut zu ProduzentInnen von Information und Argumentation. (Vgl. Clara Landler, Kapitel 1.3. Macht Sprache Internet?)

Die Vorstellung, reziproke Kommunikationskanäle stellten eine Notwendigkeit dar, um der Demokratie den notwendigen Schub zu versetzen, stammt jedoch schon aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Schon Berthold Brecht forderte, den Rundfunk von einem „Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat“ zu verwandeln, um die NutzerInnen aus ihrer Isolation zu befreien[4]. Dass diese Forderung im Netz und insbesondere in Sozialen Medien nun seine Umsetzung gefunden hat, ist vielleicht der zentralste Grund dafür, dass viele BeobachterInnen im Internet einen potentiellen Aktionsraum einer neuen Öffentlichkeit im Sinne Habermas’ sehen.

Erst 2006 äußert sich der Sozialwissenschaftler dann persönlich zu jenem vermeintlichen Potential des nun gar nicht mehr so neuen Mediums. Er tat dies entgegen aller Erwartung mit vernichtenden Worten und setzte das Web dem Vorwurf aus, es würde den Diskurs in Millionen Einzelteile zersplittern und stünde auf diese Weise der Verdichtung und Synthetisierung von Argumenten entgegen[5]. Dass diese Einschätzung in der politischen Blogosphäre zu großem Unmut führte, war voraus zu sehen. Howard Rheingold, Netzenthusiast der ersten Stunde, warf dem Theoretiker vor, das Internet nicht zu verstehen und wünschte sich, Habermas hätte es bei einem „I leave that work to younger scholars, who can build contemporary theories on the foundations of my earlier work about the role of the public sphere in an infosphere dominated by mass media“[6] belassen. Rheingold war jedoch nicht der einzige, der in dieses Horn stieß[7]. Zur Frage, ob es legitim ist, den Theoretiker zu enteignen und sich seines Werkes nach eigenem Sinn und Zweck und Anwendungsgebiet zu bedienen, kann man stehen, wie man will. Habermas’ Kritikpunkt allzu unreflektiert im Raum stehen zu lassen, ist jedoch verfehlt. Es mag sein, dass Habermas die Funktionsweisen neuer Medien tatsächlich nicht zu überblicken vermag, mit seiner Kritik der Zersplitterung schlägt er jedoch ein Thema an, welches auch jüngere und sicherlich technikaffinere BeobachterInnen thematisieren. Eli Pariser schlägt mit seinem Begriff der „Filterbubble“ in genau die selbe Kerbe[8]. Die Filterbubble ist schlussendlich nichts anderes, als eine Zersplitterung in unverbundene Teilöffentlichkeiten (vgl. Julian Ausserhofer, Kapitel 1.6. Gute Filter, böse Filter?). Diese Problematik sollte also nicht außer Acht gelassen werden, wenn man sich mit potentiellen virtuellen Öffentlichkeiten auseinandersetzt.

2. Globalisierte Öffentlichkeit

In seiner Habilitationsschrift behandelt Habermas Öffentlichkeit im gesicherten Rahmen des Nationalstaates. Wenn er von öffentlicher Gewalt spricht, denkt er an Regierungen, die in Parlamenten Gesetze verabschieden. Die bürgerliche Öffentlichkeit sieht er im Kaffeehaus versammelt vor sich.

Wenn man heute von virtuellen Öffentlichkeiten spricht und den Versuch unternimmt, dieses Theoriegebäude dem Internet gefügig zu machen, denkt man an Foren und Soziale Medien, man denkt an AkteurInnen, die losgelöst und unabhängig von nationalstaatlichen Grenzen agieren und somit im besten Fall in einen internationalen Dialog treten. Gleichzeitig haben sich in unserer globalisierten Welt auch die Problemstellungen verändert und den begrenzten nationalstaatlichen Rahmen gesprengt. Die neuen Herausforderungen unserer Zeit, allen voran sei hier der Klimawandel zu nennen, sind zweifellos nur über gemeinsame, international koordinierte Anstrengungen in den Griff zu bekommen.

James Bohman (Professor für Philosophie an der Saint Louis University, USA) versuchte bereits 2004, die Idee der Öffentlichkeit auf das Internet anzuwenden und sie gleichzeitig in den transnationalen Raum zu heben[9]. Er setzt sich dabei mit zwei Einwänden des kanadischen Politikwissenschaftlers und Philosophen Will Kymlickas auseinander.

Kymlicka hält der globalen Öffentlichkeit erstens entgegen, dass sich die Problematik der Elitenbildung bei räumlicher Ausdehnung geradewegs verschärft und mit dem Ideal der Gleichheit unter den DiskursteilnehmerInnen endgültig brechen würde.

Bohman widerspricht dieser Kritik insofern, als dass eine verstärkte Elitenbildung seiner Ansicht nach nur dann zum Tragen käme, wenn man transnationale Öffentlichkeit als ein aufgeblasenes Abbild nationaler Öffentlichkeiten verstehe. In diesem Fall ließe sich die Kritik als reiner Skaleneffekt formulieren. Tatsächlich müsste eine transnationale Öffentlichkeit jedoch weit flexibler und vielschichtiger an die Arbeit der EntscheidungsträgerInnen andocken[10] und schließlich sei die Kompetenz letzterer auf Grund ihrer Dezentralität nicht mit nationalstaatlichen Systemen vergleichbar. Diese Argumentation deckt sich mit jener der Global-Governance Forschung, derzufolge:

„Governance keine Staatstätigkeit ist und somit begrifflich nicht mehr in ein hierarchisches System eingebettet. Mit Governance werden hier horizontale (verschiedene Akteure) sowie vertikale (verschiedene Ebenen) Formen der Koordination bezeichnet. Es gibt keinen zentralen Akteur mehr, dem allein eine Steuerungs- und Kontrollfähigkeit zugesprochen wird, sondern Entscheidungsprozesse finden interaktiv zwischen staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren statt“.[11]

Zweitens wirft Kymlicka ein, dass Öffentlichkeit stets einen gemeinsamen kulturellen und politischen Verständigungsraum voraussetze, der auf globaler Ebene nicht gegeben sei[12]. Diese Problemstellung ist jedoch keineswegs neu. In gewisser Weise ähnelt sie dem Übergang von archaischen, zu modernen Gesellschaften, wie ihn Habermas selbst analysiert. In archaischen Gesellschaften sind die drei lebensweltlichen Elemente Kultur, Gesellschaft und Identität zu einer Einheit verschmolzen und erklären sich demnach gegenseitig. In modernen Gesellschaften differenziert sich diese Einheit aus – und die Regeln des Zusammenlebens lassen sich immer weniger auf Basis gemeinsamer traditioneller Weltbilder legitimieren. Sie müssen deshalb diskursiv stabilisiert werden[13]. In anderen Worten: Legitimität muss kommunikativ erzeugt werden und Kommunikation wird damit gleichsam zum Ziel und zur Voraussetzung einer funktionierenden Öffentlichkeit.

Neue Medien bieten die technischen Instrumentarien um global zu kommunizieren, Solidarität und letztlich Legimtität herzustellen. Ob diese Kommunikation den Idealen einer politischen Öffentlichkeit gemäß der Habermas’schen Konzeption entspricht, soll nun anhand eines Fallbeispiels hinterfragt werden, welches passender kaum sein könnte. Die Konferenz der Vereinten Nationen über Nachhaltige Entwicklung, abgehalten im Juni 2012 in Rio de Janeiro, bot ein Forum, um sowohl die sozialen, als auch ökologischen Herausforderungen zu diskutieren, die eine globalisierte Weltwirtschaft mit sich bringt. Welche Kommunikationsstrukturen sich rund um dieses Ereignis auf der Microbloggingplattform Twitter entwickelt haben, möchte ich im Folgenden kurz beleuchten.

3. Rio+20 auf Twitter

Jürgen Habermas hat ein normatives Öffentlichkeitskonzept geschaffen. Seine Ausführungen beschreiben einen Sollzustand, dem zumindest drei Voraussetzungen zu Grunde liegen. Es handelt sich dabei um die grundsätzliche Unabgeschlossenheit des Publikums, die Ebenbürtigkeit der TeilnehmerInnen und die uneingeschränkte Problematisierbarkeit aller Themenbereiche[14]. Weil mir die ersten beiden Kriterien Zugang und Ebenbürtigkeit im Zusammenhang mit einer ausgedehnten transnationalen Öffentlichkeit besonders zentral erscheinen, werde ich nun versuchen, sie einigen empirischen Daten gegenüberzustellen und mich zusätzlich mit dem Einwand der Zersplitterung des Diskurses im Netz auseinandersetzen.

Rio+20 fand zwischen dem 20. und 22. Juni 2012 statt. Ich habe den Untersuchungszeitraum auf eine Woche vor und eine Woche nach der Konferenz eingeschränkt und anhand verschiedener Schlagwörter[15] Statusupdates auf Twitter gefiltert. Daraus ergab sich eine Gesamtsumme von knapp über 717.000 Tweets, die wiederum von knapp 240.000 verschiedenen BenutzerInnen verfasst wurden. Anschließend wurden über die Twitter-API bzw. Entwicklerschnittstelle noch zusätzliche Profilinformationen zu den einzelnen BenutzerInnen erhoben.

4. Zugang

„Die bürgerliche Öffentlichkeit steht und fällt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs. Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit.“ [16]

Die Zentralität dieses Kriteriums liegt also auf der Hand. Aus empirischer Sicht lässt sich die Frage des grundsätzlich möglichen Zugangs, der hier angedeutet wird, nur aus einem Rückschluss des tatsächlichen Zugangs beantworten. Natürlich ließe sich im Fall von Twitter auch argumentieren, jeder Mensch könne sich problemlos ein Twitterkonto einrichten, womit dieses Kriterium ohnehin gegeben sei. Spätestens seit Michel Castells acht verschiedene digital gaps identifiziert hat [17], wissen wir jedoch, wie vielfältig Zugangsbeschränkungen wirken können. Für die vorliegende Fragestellung ist der sogenannte global divide am wichtigsten, also die Frage, aus welchen Weltregionen Menschen am Diskurs teilnehmen (können).

3.5. Weltöffentlichkeit – Stephan Schlögl 1

Abbildung 1: Rio+20

Abbildung 1 zeigt, aus welchen Ländern zu Rio+20 getwittert wurde. Wie sich unschwer erkennen lässt, dominieren die beiden Amerikas und Europa. Wäre Südamerika nicht so stark vertreten, würde sich dieses Bild perfekt mit jenem decken, das Castells beschreibt, wenn er vom Global Divide des Digital Gaps spricht. Afrika ist der sprichwörtliche graue Fleck auf der Landkarte und die Tatsache, dass insgesamt nicht einmal 2% aller UserInnen von diesem Kontinent aus twitterten, lässt außer Zweifel, dass es sich hier nicht um einen Zufall handelt. AfrikanerInnen werden damit zur „angebbaren Gruppe“ in den Worten Habermas‘ und die NutzerInnenzahlen lassen mehr als nur die bloße Vermutung zu, dass ökonomische und soziale Strukturen in den jeweiligen Ländern mitverantwortlich für die fehlende afrikanische Präsenz in diesem Diskurs sind.

Für die Frage der Öffentlichkeit bedeutet dies, dass ein konstitutives Kriterium nicht gegeben ist, was in diesem Fall besonders schwer wiegt. Entscheidungen, die auf Konferenzen wie Rio+20 getroffen oder eben nicht getroffen werden, können besonders für afrikanische Länder schwerwiegende Konsequenzen haben, da Themen mit spezifischer Relevanz auch für Afrika (allen voran nachhaltige Entwicklung) hier auf globaler Ebene verhandelt werden.

5. Ebenbürtigkeit

„Die Parität, auf deren Basis allein die Autorität des Arguments gegen die der sozialen Hierarchie sich behaupten und am Ende auch durchsetzten kann, meint im Selbstverständnis der Zeit die Parität des »bloß Menschlichen«. Les hommes, private gentleman, die Privatleute bilden das Publikum nicht nur in dem Sinne, daß Macht und Ansehen der öffentlichen Ämter außer Kraft gesetzt sind; auch wirtschaftliche Abhängigkeiten dürfen im Prinzip nicht wirksam sein; Gesetze des Marktes sind ebenso suspendiert wie die des Staates.“[19]

Um die Frage der Ebenbürtigkeit bzw. Gleichheit der AkteurInnen zu operationalisieren, macht es Sinn, sich das Bild des Kaffeehauses in Erinnerung zu rufen. Der bedeutende Unterschied zu Sozialen Medien liegt hier in der absoluten Gleichverteilung der Reichweite. Die physischen Begebenheiten des Gesprächs versammelter Personen haben den egalitären Nebeneffekt, dass jedes Wort von jedem/jeder anderen gehört werden kann bzw. muss. Demgegenüber wird mit dem Followerprinzip auf Twitter die Ungleichverteilung der Reichweite geradezu institutionalisiert und technisch integriert. Wie stark drückt sich diese strukturelle Ungleichheit tatsächlich aus?

Ein klassisches, aus der Statistik stammendes Maß zur Bestimmung von Ungleichverteilungen, ist der sogenannte Gini-Koeffizient. Dieser kann zwischen null und eins schwanken, wobei null absolute Gleichverteilung bedeuten würde (jedeR bekommt exakt gleich viel) und eins dementsprechend absolute Ungleichverteilung (eineR bekommt alles und alle anderen nichts). Darstellen und gleichzeitig graphisch definieren, lässt sich dies anhand der Lorenzkurve, bei der man auf der y-Achse bspw. das kumulierte Einkommen aufträgt und auf der x-Achse die Gesamtbevölkerung in aufsteigender Reihenfolge gemäß dem Einkommen listet. Eine 45° Gerade würde demnach Gleichverteilung darstellen, denn 20 % der Bevölkerung hätten dann 20 % des Einkommens zur Verfügung, 50 % hätten 50 % usw. Umso weiter sich die reale Kurve von dieser Geraden entfernt, umso ungleicher verteilt wären die unterschiedlichen Einkommen – und genau das misst der Gini-Koeffizient[20].

3.5. Weltöffentlichkeit – Stephan Schlögl 2

Abbildung 2: Lorenzkurve

Legt man dieses Analyseinstrument auf die Followerzahlen der TwitteruserInnen um, die zu Rio+20 getweetet haben, ergibt sich die in Abbildung 2 dargestellte Lorenzkurve. Wie sich unschwer erkennen lässt, haben wir es hier mit einer enormen Ungleichverteilung, bzw. einem Gini-Koeffizienten von 0,913, zu tun. 80% der NutzerInnen erreichen gemeinsam nicht einmal 10% der kumulierten Reichweite. Um der LeserIn eine Orientierung zu geben, sei hier angemerkt, dass die Vereinten Nationen die weltweite Verteilung von Reichtum auf einen Gini-Koeffizienten von 0,892 schätzt[21].

Inwieweit dieser Vergleich zulässig ist, lässt sich natürlich anzweifeln. Man könnte argumentieren, dass die Ökonomie mit knappen Ressourcen rechnet und ihre Instrumente auf der Prämisse aufbauen, dass kein Dollar gleichzeitig von mehreren Personen besessen werden kann. Demgegenüber könnte man behaupten, Twitter biete einen Kontext, in welchem jede BenutzerIn mit einem unerschöpflichen Investitionspotenzial an Aufmerksamkeit ausgestattet ist und so vielen anderen UserInnen folgen kann, wie ihr oder ihm beliebt. Ich möchte dem jedoch entgegnen, dass Aufmerksamkeit ein ebenso beschränktes Gut ist, welches im Informationszeitalter besonders stark umkämpft ist. Niemand, der Twitter ernsthaft benutzt, kann einer unbeschränkten Anzahl an Personen folgen[22].

6. Ungleichverteilung

Wie lässt sich diese Ungleichverteilung nun erklären? Der Verdacht liegt nahe, dass jenes Ideal, demzufolge „Macht und Ansehen der öffentlichen Ämter außer Kraft gesetzt sind“[23], hier verletzt wird. Natürlich sind hier nicht Ämter im klassischen Sinne gemeint, sondern jede Art von Ansehen und Reputation, die von außerhalb des Mediums (Twitter) in dieses hineingetragen wird. In anderen Worten: Prominente jeder Art verzerren die Ebenbürtigkeit innerhalb von Twitter aufs Gröbste. Ein Indiz dafür ist, dass die verifizierten Accounts[24] im Datensatz durchschnittlich fast 150-mal so viele Follower haben, wie „normale NutzerInnen“ und die Wahrscheinlichkeit, dass eine ihrer Statusmeldungen „geretweetet“ (also von anderen NutzerInnen weitergeleitet) wird, ist über 50 mal so groß wie bei letzteren. Es ist weder Sinn und Zweck, noch entspricht es dem Geschäftsmodell von Twitter, Gleichheit unter den TeilnehmerInnen herzustellen. Viele der NutzerInnen würden dies wohl auch gar nicht gutheißen, denn schließlich ermöglicht das System „auch normalen NutzerInnen“ politischen RepräsentantInnen und anderen „Prominenten“ in gewisser Weise nahe zu sein. Gleichzeitig vermittelt diese Nähe jedoch ein falsches Gefühl von Gleichheit, dass auf wundersame Weise den Eindruck entstehen lässt, Kommunikation funktioniere hier auf gleicher Augenhöhe.

Vorstellungen wie jene von Howard Rheingold, der 1994 noch davon sprach „daß virtuelle Gemeinschaft [sic!] sie [die Menschen; Anm. d. Verf.] so behandeln, wie sie sich das immer gewünscht haben: als Denker, als Übermittler von Ideen, als Wesen mit Gefühlen, nicht als bloße Körper mit einem bestimmten Aussehen und einer bestimmten Art zu gehen und zu sprechen“[25], müssen heute als romantische Utopie eines frühen Netz-Enthusiasmus verstanden werden. Die „Autorität des besseren Argumentes“ wird von der faktischen Abschaffung der Anonymität (allen voran in sozialen Netzwerken) untergraben. Hierarchien werden gemeinsam mit Stereotypen und Sexismen ins Netz übertragen und Wege hin zu einem adäquaten Umgang damit, geschweige denn einer Überwindung davon, müssen, genauso wie in allen anderen Diskursräumen, erst gefunden werden. (Vgl. Leonie Tanczer, Kapitel 1.4. Post, Gender, Internet?)

7. Zersplitterter Diskurs

Übrig bleibt Habermas’ eigene Kritik am Internet als Aktionsraum einer funktionierenden Öffentlichkeit. Das „Publikum zerfällt im virtuellen Raum in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen“ sagt Habermas 2008 (S. 161). Inwiefern diese Aussage auch auf den Twitterdiskurs um Rio+20 zutrifft, möchte ich nun kurz anhand meiner empirischen Daten beleuchten.

Grundsätzlich entsprechen die Daten den klassischen Voraussagen für moderne Onlinekommunikation. Ein großer Teil der BenutzerInnen beteiligt sich nur marginal an der Diskussion, während der größte Teil der Inhalte von einigen wenigen generiert wird[26]. Konkret heißt das in diesem Fall, dass 64% der NutzerInnen nur einen einzigen Tweet zu den definierten Schlagwörtern verfasst haben und nur knappe 20% häufiger als 5-mal getweetet haben. Diese Tatsache dafür zu missbrauchen, den Diskurs als zersplittert zu verdammen, wäre jedoch allzu einfach und wenig zielführend. Bestimmt ist es wahr, dass große Teile nur kurz an der Diskussion teilnehmen und wenig dazu beitragen, dies ist jedoch nicht viel mehr als ein Resultat der Technik, die es erlaubt, auch ohne tiefer gehendes Engagement schnell seine Meinung oder eine bestimmte Information zu einem Thema los zu werden. Interessant sind aber, wie in jedem Diskurs, die TeilnehmerInnen, die sich intensiv mit einem Thema auseinander setzen und dementsprechend kommunikativ engagiert sind. Wie stark diese NutzerInnen vernetzt sind, ist schlussendlich für die Konsistenz eines Diskurses ausschlaggebend.

3.5. Weltöffentlichkeit – Stephan Schlögl 3

Abbildung 3: Followernetzwerk der UserInnen mit über 50 Tweets zu Rio+20 [27]

Abbildung 3 stellt das Netzwerk der Followerbeziehungen jener NutzerInnen dar, die zumindest 50-mal etwas zu Rio+20 getweetet haben. Insgesamt trifft das auf 1213 NutzerInnen zu, die wiederum ein Netzwerk aus 1081 Knoten bilden[28]. Jede NutzerIn wird in der Abbildung durch einen Kreis (Knoten) dargestellt, dessen Farbe[29] Auskunft darüber gibt, welche Spracheinstellung das Konto hat. Die Größe gibt an, wieviele Follower die NutzerIn innerhalb des Netzwerkes hat. Die Linien zwischen diesen Knoten stellen die Followerbeziehungen zwischen ihnen dar. Jene Knoten, die zueinander Verbindungen haben bzw. Verbindungen zu den gleichen Knoten haben, werden möglichst nahe beieinander dargestellt.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass sich das Netzwerk in Sprachgruppen gliedert, wobei einerseits eine portugiesischsprachige bzw. brasilianische Gruppe identifizierbar ist und andererseits eine englischsprachige Gruppe, die stark von den offiziellen Twitteraccounts der Vereinten Nationen dominiert und zusammengehalten wird.

Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Netzwerk insgesamt überaus gut integriert ist. Alleine die Tatsache, dass weniger als 10% aller NutzerInnen, welche zumindest 50-mal zu Rio+20 getweetet haben, in irgendeiner Weise in das Netzwerk eingebunden sind, spricht gegen die Kritik Habermas’. Durchschnittlich hat jeder Knoten des Netzwerkes 30 Verbindungen zu anderen TeilnehmerInnen. Bedenkt man nun, dass die hier abgebildeten NutzerInnen laut Profilinformationen aus insgesamt über 50 verschiedenen Ländern der ganzen Welt stammen, ist dies besonders bemerkenswert. Würde man den englischsprachigen Teil des Netzwerkes nach Herkunft einfärben, könnte man sehen, dass hier NutzerInnen aus den verschiedensten Weltregionen teilnehmen.

Insgesamt lässt sich deshalb nur noch einmal wiederholen, dass diese Gruppe der Engagierten überaus eng vernetzt ist und sich Informationsaustausch bzw. Diskussion hier scheinbar tatsächlich auf globalem Niveau abspielt. Von einer Zersplitterung kann demnach kaum die Rede sein.

8. Schlussfolgerungen

Normative Konzepte wie jenes der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas eignen sich hervorragend dafür, Fragestellungen zu formulieren und Kriterien für empirische Untersuchungen zu operationalisieren. Schwierig wird es allerdings dann, wenn es darum gehen soll, die Resultate zu bewerten, weil Ideale besonders unbarmherzige Maßstäbe sind und es in ihrer Natur liegt, dass sie unerreichbar bleiben.

Aus diesem Grund mögen auch viele der hier vorgestellten Ergebnisse ein vernichtend negatives Bild auf das Netz als Diskursraum im Habermas’schen Sinne geworfen haben. Wir haben gesehen, dass mit Afrika ein ganzer Kontinent an den vermeintlich globalen Kommunikationsprozessen, die unseren Alltag in nördlichen Industrieländern so maßgeblich prägen, kaum Anteil hat. Es konnte gezeigt werden, wie ungleichverteilt die Reichweite unserer geschriebenen Worte zumindest auf der Plattform Twitter ist.

Gleichzeitig hätte man den Fokus aber auch auf die positiven Ergebnisse richten können. Man hätte unterstreichen können, dass bereits heute breite Teile der Weltbevölkerung (mit der empfindlichen Ausnahme von Afrika) stärker oder schwächer in diesen Diskurs integriert sind. Man hätte die Aufmerksamkeit auch darauf lenken können, dass der Median der Followerzahlen bei 189 liegt und darauf hinweisen, dass dies eine beachtliche Reichweite ist und es ohne Twitter sehr schwierig wäre, die eigenen Anliegen und Informationen ähnlich breit diffundieren zu können.

Darin liegt jedoch nicht der Sinn dieses Artikels. Auch heute überwiegt meiner Wahrnehmung zufolge die Euphorie darüber, welche deliberativen Möglichkeiten uns das Netz bietet. Gerade deshalb ist es wichtig, auch die Schwächen dieser Systeme zu beleuchten. Erst wenn wir Kenntnisse darüber haben, welche Stimmen im Netz unter- oder gar nicht repräsentiert sind und wir uns bewusst werden, dass wir trotz aller vermeintlichen Nähe innerhalb der Sozialen Medien nicht immer auf gleicher Augenhöhe kommunizieren, können wir diese Instrumente sinnvoll und mit Bedacht nutzen und die Aussagekraft des Kommunizierten richtig einschätzen. Der Netzenthusiasmus soll keineswegs getrübt werden, schließlich scheint er das Interesse junger Generationen an deliberativen Prozessen neu geweckt zu haben. Es ist jedoch von äußerster Wichtigkeit, über die Kommunikationsstrukturen, in denen wir uns hier bewegen, Bescheid zu wissen, um diese sinnvoll nutzen zu können.

 


[1] vgl. Habermas, Jürgen (1990). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 84.

[2] vgl. ebd. S. 153

[3] ebd. S. 260f

[4] vgl. Brecht, Bertold (2002). Der Rundfunk als Kommunikationsapparat – Rede über die Funktion des Rundfunk (1932). In: Kursbuch Medienkultur: die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Hrsg. von Claus Pias. Stuttgart: DVA, S. 260.

[5] vgl. Habermas, Jürgen (2008). Ach, Europa. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 161f.

[6] s. Rheingold, Howard (2007). Habermas blows off question about the Internet and the Public Sphere. Weblog url: https://www.smartmobs.com/2007/11/05/habermas-blows-off-question-about-the-internet- %20and-the-public-sphere/ (Letzter Aufruf: 19.11.2012), vorletzter Absatz.

[7] Stuart Geiger (2009) fasst in Does Habermas Understand the Internet? The Algorithmic Construction of the Blogo/Public Sphere diese Debatte anschaulich zusammen. (In: Gnovis 10.1, S. 1–29.)

[8] vgl. Pariser, Eli (2012). Filter Bubble: Wie wir im Internet entmündigt werden. Carl Hanser Verlag GmbH & CO. KG.

[9] vgl. Bohman, James (2004). Expanding Dialogue: the Internet, the public sphere and prospects for transnational democracy. In: After Habermas: New Perspectives on the Public Sphere. Hrsg. von Nick Crossley und John Michael Roberts. Oxford, Blackwell Publishing/The Sociological Review, S. 131–155.

[10] vgl. ebd., S.147f

[11] s. Behrens, Maria (2005). Global Governance – Eine Einführung. In: Globalisierung als politische Herausforderung. Global Governance zwischen Utopie und Realität. Hrsg. von Maria Behrens. Bd. 3. Governance. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 18.

[12] vgl. Bohman 2004, S. 147

[13] vgl. Palazzo, Guido (2002). Die Mitte der Demokratie. 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 30f.

[14] vgl. Habermas 1990, S. 97f.

[15] Gesucht wurde nach den Schlagwörtern RIO20, RIO+20, Rioplus20 und futurewewant.

[16] S. Habermas 1990, S. 156.

[17] vgl. Castells, Manuel (2008). Die Internet-Galaxie: Internet, Wirtschaft und Gesellschaft. 1. Auflage der deutschen Übersetzung von Reinhart Kößler. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 261ff.

[18] Die Daten beziehen sich auf das Feld Timezone in den Benutzereinstellungen, die in den meisten Fällen mit einem englischen Städtenamen versehen sind. Über einen automatisierten Abgleich mit einer Städtedatenbank konnten 145.720 Benutzer eindeutig einem Staat zugeordnet werden. Die Farbskala dieser Weltkarte wurde logarithmiert, um auch die feineren Abstufungen vor allem im unteren Bereich der Skala sichtbar zu machen.

[19] S. Habermas 1990, S. 97.

[20] vgl. Cowell, Frank A (2009). Measuring Inequality. Oxford University Press. url: https://darp.lse.ac.uk/pap ersDB/Cowell_measuringinequality3.pdf (Letzter Aufruf: 19.11.2012), S. 22, 26f.

[21] vgl. Davies, James B. u. a. (2008). The World Distribution of Household Wealth. In: WIDER Discusion Paper, S. 10.

[22] Selbst wenn die Daten durch Bots und Spam Accounts stark verfälscht wären, sprechen die Zahlen so eindeutige Worte, dass man ohne Weiteres von einer stark ausgeprägten Ungleichheit sprechen kann.

[23] vgl. Habermas 1990, S. 97.

[24] Verifizierte Accounts sind solche, bei denen Twitter die Authentizität der BenutzerInnen überprüft. Laut eigenen Angaben konzentriert man sich dabei auf Prominente aus den Bereichen Musik, Film, Mode, Regierung, Politik, Religion, Journalismus, Medien, Werbung, Business. Die Verifizierung von Accounts stellt damit den legitimierten Brückenschlag zwischen Twitter-interner und Twitter-externer Identität dar.

[25] vgl. Rheingold, Howard (1994). Virtuelle Gemeinschaft. 1. Auflage der deutschen Übersetzung. Addison-Wesley, S. 41.

[26] vgl. Stegbauer, Christian (2012). Strukturelle Ursachen der Entstehung von Ungleichheit in Beziehungsmedien. In: Ungleichheit – Medien- und kommunikationssoziologische Perspektiven. Hrsg. von Christian Stegbauer. Wiesbaden: Springer VS, S. 301–322.

[27] Für eine genauer Betrachtung in Farbe kann diese Visualisierung online unter homepage.univie.ac.at/stephan.schloegl/rio20 abgerufen werden.

[28] Für die restlichen Accounts konnten die Informationen zu Followern entweder nicht abgerufen werden oder sie stellen sogenannte Isolate dar, also Knoten die zu keinem einzigen der anderen Knoten Verbindungen eingehen.

[29] Die Wichtigsten sind Blau: Englisch, Grün: Portugiesisch, Gelb: Französisch, Rosarot: Spanisch.

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